Schule wird digital. #2 Notizen zur wissenschaftlichen Diskussion

Schule wird digital
#1 DIE Politischen Akteure
#2 DIE wissenschaftliche diskussion

Zusammenfassung: Begriff Digitale Bildung – Schule plus Digitales oder geht es um mehr? Bildungsrevolution? – Potenziale der digitalen Bildung – Leitmedienwechsel vollzogen – integrierte Medienbildung selbst gestalten – Neue Herausforderungen braucht neue Kompetenzen: 4K = Kreativität, Kommunikation, Kollaboration, Kritisches Denken – Medienkompetenz = neue Kulturtechnik

Wie heißt es denn nun? Viele Begriffe wie Digitale Bildung und digitale Welt, die in der Diskussion verwendet werden, sind vielen Experten wissenschaftlich nicht genau genug. Es gebe schließlich keine digitale Bildung (Was solle das sein?) und keine digitale Welt (wie in Matrix), monieren die einen, sondern lediglich eine Bildung mittels digitaler Medien und eine von der Digitalisierung durchdrungene Welt. Es mache aber keinen Sinn, allzu lange über Begriffe zu streiten, wir müssten dafür sorgen, dass die Begriffe mit Leben gefüllt werden, kontert Beat Döbeli Honegger von der PH Schwyz treffend.

Worum geht es? Lehrer über 40 kennen TED, Lehrer unter 30 auch. Der eine TED kam immer in “Wetten, dass…???”, der andere TED ist eine weltweite Speakers’ Corner. Um den zweiten TED geht es. Der Publizist und Speaker Sir Ken Robinson bemängelte 2006, dass unsere Schulen die natürliche Kreativität des Menschen nicht gerade förderten. Sein Vortrag wurde allein auf TED.com über 42 61 68 Millionen Mal angeklickt. Er denkt weiter und fordert zur Bildungsrevolution auf. Die Paradigmen, die unser Bildungssystem diktieren, stammten aus (vor-) industriellen Zeiten und müssten geändert werden (Video unten, insg. 11:40 min). Unser Schulsystem arbeite immer noch nach dem Prinzip der Fließbandproduktion, so als ob das Geburtsdatum eines Kindes seinen Lernbedarf ergäbe und alle zur gleichen Zeit das gleiche lernen könnten, als ob der Stoff mit dem Nürnberger Trichter eingeflößt werden könnte.

Einige sehen im Digitalen daher die Chance, das Bildungssystem zu revolutionieren. So weit muss man vielleicht gar nicht gehen, andererseits … viele wissenschaftliche Erkenntnisse belegen die positiven Effekte digitaler Bildung. Viele Studien widerlegen sie aber auch gleich wieder. Denn es kommt auf die Lehrkräfte an – wie eigentlich immer bei gutem Unterricht (siehe Hattie-Studie). In Deutschland beschrieb Professor Michael Kerres (Uni Duisburg-Essen) schon früh die Potenziale des Web 2.0 (viele seiner Aufsätze macht er über seine Literaturliste verfügbar). Aktuell skizziert er die Herausforderungen der Digitalisierung für die Medienpädagogik und betont den Kern des Ganzen, die Frage, wie Bildung zu verstehen sei. Denn “es geht eben nicht mehr darum, ‘eine Unterrichtseinheit zur Medienkompetenz’ in Curricula unterzubringen, sondern die gesamten Curricula im Hinblick auf die Digitalisierung zu hinterfragen und ggfs. zu erneuern.”

In der Studie Individuelle Förderung mit digitalen Medien bestätigt Kerres zusammen mit Richard Heinen (beide LearningLab der Uni Duisburg-Essen) die Möglichkeiten digitalen Unterrichts und zeigt, wie Schulen den Prozess der Medienintegration als Handlungsfeld der Schulentwicklung gestalten können. Die Autoren geben Anhaltspunkte zur stufenweisen Integration digitaler Medien in Schule und Unterricht und beachten hierbei immer das Postulat, die individuelle Förderung zu unterstützen. Auch Heike Schaumburg (Humboldt-Uni Berlin) sieht in der digitalen Bildung eine Kernaufgabe der Schule. Zu allererst müssten die Kompetenzen und die Bereitschaft der Lehrkräfte gefördert werden, “da ihnen die Aufgabe zukommt, digitale Medien in einem didaktischen Setting so einzusetzen, dass die Schüler in optimaler Weise profitieren” (Studie Chancen und Risiken digitaler Medien in der Schule). Hier muss über Fortbildung angesetzt werden, und natürlich gleichzeitig in die Reform der Ausbildung investiert werden.

Aus der wissenschaftlichen Diskussion lassen sich ein paar grundlegende Prämissen für das heutige Verständnis von Bildung ableiten: Der Leitmedienwechsel von Buch zu Computer, von Print zu Online ist vollzogen, wir leben nicht mehr in der analogen Buchdruckgesellschaft, sondern in der digitalen Informationsgesellschaft. Äquivalent wird in der Bildungstheorie der Behaviorismus vom Konstruktivismus abgelöst, natürlich schon schon seit Längerem, was sich auch analog in Methoden wie denen des Kooperativen Lernens niederschlägt. Und das Informationszeitalter hält neue Herausforderungen bereit: Automatisierung, Informationsflut, beschleunigter Wandel oder unter’m Strich zusammengefasst: komplexere Probleme. Diesen Umständen sollte auch in der Bildung Rechnung getragen werden – grafisch veranschaulicht bei Döbeli Honegger. In seinem Buch Mehr als 0 und 1 analysiert er den Leitmedienwechsel und zeigt auf, wie ihm eine zeitgemäße Schule begegnen kann: weder mit pauschaler Ablehnung noch mit naiver Euphorie, sondern mit informiertem Pragmatismus. (Absolute Leseempfehlung!)
Link zu http://mehrals0und1.ch/Digital/Grafiken
CC BY SA – Beat Döbeli-Honegger 2016

Die Diskussion um digitale Bildung geht aber auch weit über hergebrachte Muster wissenschaftlicher Meinungsbildung hinaus, weil sie auch von Bildungsexperten außerhalb der Elfenbeintürme mitgestaltet wird, von Lehrern, Seminarleitern, Journalisten, Medienpädagogen, Leuten, die irgendwas mit Medien machen, die sich als Blogger einbringen, in Edchats austauschen, auf Twitter vernetzen. Leider ist die Diskussion dadurch, dass sich heutzutage wirklich jeder medienwirksam äußern kann, häufig auch geprägt von Pseudo-Argumentationen und populistischen Dichotomien: Digitale Demenz versus Bildungsrevolution, Pflichtfach Informatik versus fächerintegrierter Vermittlung, Learning Analytics versus Datenschutz, Datenschutz versus Chancengleichheit, restriktive Nutzung versus kompetenter Umgang, Alle versus Apple usw..

Das Internet zeigt hier beispielhaft die Notwendigkeit auf, altbekannte Vorstellungen neu zu justieren, jeder kann heute mitdiskutieren, jeder kann heute publizieren. Zum Glück. Denn schließlich gelte es, die Deutungshoheit darüber, was die digitale Bildung sein soll (Blogpost von Lisa Rosa zur Vertiefung sehr zu empfehlen!), nicht den unvermeidlichen Big Playern aus dem Silicon Valley oder meinungsmachenden Medienkonzernen im lammfrommen Gewand ihrer Stiftungen zu überlassen (bspw. Initiative “Forum Bildung Digitalisierung”).

Man muss weder Forscher noch Lehrbeauftragter sein, um belastbare Modelle für die digitale Bildung zu entwickeln. Beeindruckende Entwicklungen, die außerhalb der Universitäten entstanden, sind das Pedagogy Wheel, das MIFD-Modell zur Individuellen Förderung oder das SAMR-Modell. Das von Allan Carrington entwickelte Pedagogy Wheel erläutert Professor Volkmar Langer hier auf deutsch, es ist die Zeit wert, sich durch das Rad zu drehen. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte der Lehrer Tobias Rodemerk mit der Entwicklung des Modells zur individuellen Förderung digital (MIFD). Es bietet eine didaktisch fundierte und konkrete Anleitung zur Auswahl digitaler Medien im Unterricht. Und es erfüllt die Kriterien des SAMR-Modells zum Einsatz digitaler Medien, das von dem amerikanischen Berater Ruben R. Puentedura (Ph. D.) entwickelt wurde (Slideshow von Ruben R. Puentedura mit weiteren Informationen). Es besagt, auf den Punkt gebracht, dass wir analoge Medien nicht einfach durch digitale Medien ersetzen sollten, sondern dass digitale Medien Lernszenarien ermöglichen, die über bisherige Aufgaben hinausgehen und damit das Lernen auf eine neue Stufe heben. An der Uni Paderborn gibt es eine ausführliche deutsche Beschreibung mit weitergehenden Informationen. Eine bildliche Umsetzung von Sylvia Duckworth hat das Medienzentrum im Landkreis Harburg veröffentlicht.
Abb. Uni Paderborn

Manche Experten fordern für die digitale Bildung weiterhin die Einführung eines Pflichtfaches Informatik, und das sogar von der Grundschule an (man verweist gerne auf das Fach ‘Coding’ in Englands Grundschulen). Die meisten Experten sind sich inzwischen aber darin einig, dass Medienbildung Aufgabe aller Fächer ist, und das von der Grundschule an, so auch Bund und Länder. Auf nationaler Ebene ist das Strategie-Papier “Bildung in der digitalen Welt” der KMK deshalb durchaus als wegweisend anzusehen.

Bisher gab es keinen länderübergreifenden Konsens zur digitalen Bildung. (Hinter den Kulissen sei in der KMK einträchtig zusammengearbeitet worden, heißt es aus internen Kreisen. Immerhin haben 16 Bundesländer mit mindestens ebenso vielen Bildungssystemen ein 50-seitiges Papier verabschiedet.) Die darin definierten 6 Kompetenzbereiche werden insgesamt positiv bewertet. Die zuvor schon im Medienpass NRW festgelegten 5 Kompetenzbereiche wurden bildungspolitisch über NRW hinaus gelobt (Bildungsmedienpreis “digita” 2015) und finden sich teils auch bei der KMK wieder. Der Kompetenzrahmen des Medienpasses NRW ist allerdings auch schon von 2011, die Aspekte des Codierens und des Problemlösens (auch ‚Computational Thinking’ genannt) kamen darin bisher zu kurz.

Der Kompetenzrahmen für NRW wird nun, 2017, wieder angepasst: aus 5 werden 6 Kompetenzbereiche, die Kompetenzanforderungen überarbeitet. Ob die definierten Kompetenzen dann up to date oder sogar zukunftsfähig sind, wird sich zeigen. Das 21. Jahrhundert verlangt nach neuen – aber auch altbekannten – Kompetenzen, die digital besonders gefördert werden könnten und müssten. Im anglo-amerikanischen Raum werden sie als 4K (dort 4C) zusammengefasst: Kreativität, Kommunikation, Kollaboration und Kritisches Denken. Unter anderem die OECD verwies schon 2012 darauf, dass die in Schule zu vermittelnden Kernkompetenzen wieder stärker auf kreatives und kritisches Denken ausgerichtet werden müssten. Nicht wenige Bildungsforscher gehen davon aus, dass diese 4K noch um einige weitere Kompetenzen ergänzt oder mindestens weiter ausdifferenziert werden müssen: Flexibilität, Systemdenken, Transferfähigkeit.

Wie ist nun die richtige Bezeichnung? Im Alltag werden viele Bezeichnungen parallel genutzt, und letztlich meinen sie fast alle das selbe, egal ob nun Lernen im digitalen Wandel (Digitales Leitbild NRW), Bildung in der digitalen Welt (KMK, sic!) oder eben digitale Bildung. Letztlich geht es um die Frage, inwieweit wir das Lehren und Lernen an eine sich drastisch wandelnde Welt anpassen und das – vermeintliche, weil unerreichte – humanistische Bildungsideal erweitern. In den Niederlanden erfreuen sich gerade Steve-Jobs-Schulen großer Beliebtheit, denn wir sollten Kinder nicht “mit Rezepten von gestern für die Welt von morgen ausbilden”, resümieren die beiden schweizer Lehrer Hartmann und Hundertpfund in ihrem Buch zur Digitalen Kompetenz.

Wir sollten Kinder erst recht nicht bis 12 Jahre analog unterrichten oder am besten von allem Digitalen fern halten, wie mancher Publizist, Psychiater oder Philologe fordert. Spitzers Thesen etwa sind mehrfach, auch von renommierter Seite, sachlich auseinander genommen worden, und Antworten auf Kraus’ abstruse Forderungen gibt es auch reichlich; verschiedene Texte zum Thema Digitalisierung sammle ich fortlaufend auf einer Pinterest-Seite (siehe Box an der Seite). Wer sich mit einzelnen Themen vertieft auseinandersetzen möchte, findet auf der (Promotion-) Seite zum Buch www.digitalekompetenz.ch weitergehende Literaturhinweise mit teilweise kostenlosen Quellen.
#1 DIE POLITISCHEN AKTEURE
#2 DIE WISSENSCHAFTLICHE DISKUSSION

4 Replies to “Schule wird digital. #2 Notizen zur wissenschaftlichen Diskussion”

  1. Lieber Marc,

    Danke für diesen guten Überblick. Du benutzt dabei die sehr gelungenen Grafiken von Beat Döbeli-Honegger und schreibst dann:

    “Manche Experten fordern für die digitale Bildung weiterhin die Einführung eines Pflichtfaches Informatik, [..] Die meisten Experten sind sich inzwischen aber darin einig, dass Medienbildung Aufgabe aller Fächer ist.”

    Damit vermischst du Medienbildung und informatische Bildung als deren Grundlage. Gerade Döbeli-Honegger plädiert in seinem Buch „Mehr als 0 und 1“ für die Einführung eines eigenen Lernbereichs Informatik. Die Dagstuhl-Erklärung (https://www.gi.de/aktuelles/meldungen/detailansicht/article/dagstuhl-erklaerung-bildung-in-der-digitalen-vernetzten-welt.html) bringt das (auch grafisch) sehr gut auf den Punkt und arbeitet drei Teilbereiche im Kontext von Medien heraus: “Wie nutze ich das? Wie wirkt das? Wie funktioniert das?”

    Zur deiner Meinung nach „wegweisenden“ Stellungnahme der KMK möchte ich der Vollständigkeit halber auf die Stellungnahme der Gesellschaft für Informatik ) verweisen:

    Die GI erklärt darin die KMK habe einen eingeschränkten Fokus auf die Nutzung digitaler Medien und weist auf den Widerspruch hin, dass ein bestehendes Fach Informatik als allgemeinbildend anerkannt ist, jedoch im Wahlbereich verbleibt und zieht dann den Schluss “Eine umfassende Bildung in der ‘digitalen Welt’ muss Digitalisierung auch aus informatischer Perspektive als Unterrichtsgegenstand in den Blick nehmen”.

    Eine Ergänzung des Medienpass um “Aspekte des Codierens“ kann das meiner Meinung nach kaum erfüllen.

    Als Medienberater hast du sicherlich einen guten Eindruck davon, wie fit LehrerInnen bei der Nutzung von digitalen Medien sind. Mein Eindruck ist: Es wird besser, aber es besteht noch großer Nachholbedarf. Ich habe KollegInnen, die jünger als ich sind und sagen in etwa „Computer – das kann ich nicht!“. Werden die Lehrkräfte nicht überfordert, wenn sie „nebenbei“ auch noch die Funktionsweise digitaler Medien kennen und vermitteln sollen?

    Um „digitale Bildung” in den og. drei Teilbereichen (Nutzung, Wirkung, Funktion) zu behandeln brauchen Schulen Fachleute zu den Themen Digitalisierung, Algorithmisierung und informatischer Modellierung – das sind Informatiker!

    Solange Schule noch in Fächern organisiert ist, kommt diese Fachkompetenz nur auf einem Weg: #PflichtfachInformatik!

  2. Lieber Marc,

    verdammt guter Überblick zum Thema, danke! Ich weiß schon viele Stellen, an denen ich auf diesen Artikel verweisen werde. In den Beratungssituationen an den Schulen wird immer wieder deutlich, dass ein Überblick über das Geschehen fehlt, um das eigene Handeln daran ausrichten zu können.
    Grüße, Tobias

  3. Sehr geerhter Herr Seegers. Sie schreiben: “Die zuvor schon im Medienpass NRW festgelegten 5 Kompetenzbereiche wurden bildungspolitisch über NRW hinaus gelobt (Bildungsmedienpreis „digita“ 2015) und durch die KMK nun erweitert.” Das stimmt leider so nicht. Ich verweise auf das KMK-Papier, S.14-15:
    “Für den vorgelegten Kompetenzrahmen wurden drei bekannte und bewährte Kompetenzmodelle herangezogen:
    – das von der EU-Kommission in Auftrag gegebene und vom Institute for Prospective Technological Studies, JRC-IPTS, in umfangreichen Studien entwickelte Kompetenzmodell „DigComp“
    – das in Deutschland weithin bekannte „Kompetenzorientierte Konzept für die schulische Medienbildung“ der Länderkonferenz MedienBildung vom 29.01.2015 und
    – das der ICILS-Studie von 2013 „Computer- und informationsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern in der 8. Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich“ zugrundeliegende Modell der „computer- und informationsbezogenen Kompetenzen“.
    Aus diesen Kompetenzmodellen wurden die Kompetenzen bestimmt, die – entsprechend der oben genannten Ziele – individuelles und selbstgesteuertes Lernen fördern, Mündigkeit, Identitätsbildung und das Selbstbewusstsein stärken sowie die selbstbestimmte Teilhabe an der digitalen Gesellschaft ermöglichen.

    1. Vielen Dank für den Hinweis, Manfred, das war in der Tat falsch formuliert, habe ich geändert.
      (Dass der KMK das NRW-Raster selbstredend bekannt war, aber nicht erwähnt werden durfte, da sonst 15 andere Länder beleidigt gewesen wären, sieht man bereits an dem von dir erwähnten Konzept der Länderkonferenz, das erst 2015 erschien, dem Medienpass-Kompetenzrahmen, der von 2010 ist, aber doch verblüffend ähnelt.)

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